Eines der hartnaeckigsten Vorurteile gegenueber Indien im Westen ist die Armut. Es gibt sie und sie ist sichtbar, auch wenn die Bettler sicher nicht zu den Aermsten gehoeren. Betteln ist in Indien ein Beruf - oder zumindest eine Familientradition - und Almosen-geben eine religioese Pflicht. Deshalb treten die Bettler auch vorwiegend an religioesen Orten (und Touristenzentren) auf. Offiziellen Stellen gehen davon aus, dass etwa die Haelfte der Inder und Inderinnen unter Armut leiden, dh. von der Hand in den Mund leben. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, dass die Haelfte des 1.2 Millarden-Volkes mehr oder weniger zur Mittelschicht gezaehlt werden kann. Die Oberschicht ist zahlenmaessig sehr klein. Es leben also zwischen 200 und 500 Mio Mittelschichtleute in Indien. Vergleiche diese Zahlen mal mit Europa.
Naturgemaess bewege ich mich ausschliesslich innerhalb der Mittelschicht. Die Unterschicht spricht nicht Englisch, die Oberschicht lebt fuer sich. Ich war bei recht vermoegenden Leuten zu Gast: Familie mit zwei schulpflichtigen Toechtern, zwei Autos, drei Motorraedern, und einem Fahrrad (weil die Juengste noch kein Motorrad fahren darf).
Der Reichtum der Mittelschicht beruht auf mehreren Faktoren: gute Jobs in international taetigen Firmen oder beim Staat, Fleiss und guenstige Dienstleistungen (Putzfrau, Koechin, Chauffeur, Gaertner usw.) durch die Unterschicht.
Das Wachstum ist immens. Ich habe niemanden, auch nicht aus der Unterschicht, kennen gelernt, der nicht massiv besser lebt als seine Eltern vor 20 Jahren. Meine Freunde hier gehen von einer Verdoppelung des Lebensstandarts innerhalb einer Generation aus. Das hohe Wachstum wird allerdings durch das noch hoehere Bevoelkerungswachstum und die Inflation relativiert.
In dieser Phase des Wirtschaftswachstums kommen einige Leute zu unglaublich hohen Geldsummen. An den schoensten Orten in Indien (z.B. Goa) kann man noch Land fuer wenige Rupien den Quadratmeter erwerben - und dann wie im Monopoly Hotels bauen. Den besten Schnitt machen aber nicht mal die Baufirmen, sondern die Spekulanten, Investoren und korrupten Politiker und Richter. Die Laendereien muessen ja jeweils umklassiert werden...
Zur Zeit wird eine massive Verteuerung der Lebensmittelpreise beklagt. Darunter leiden natuerlich die Armen besonders, weil ihre Lebenskosten in erster Linie fuer Lebensmittel anfallen. Doch gleichzeitig sind die Armen auch die Produzenten der Nahrung - auf dem Land die Bauern, in den Staedten die Haendler, Zuruester, Koeche usw... Ohne Preissteigerung werden sie nie zur Mittelschicht aufsteigen koennen.
Ein typischer Emporkoemmling hat mir gestern seine story erzaehlt. Der junge Mann stammt aus einer Bauernfamilie mit drei Kindern, irgendwo aus einem Dorf aus dem Norden. Er hat "eleven degree", d.h. das 11. Schuljahr erfolgreich abgeschlossen. Jetzt arbeitet er eine Saison lang als Kellner hier in Goa, taeglich 18 Stunden (wobei die vielen Stunden herumhocken auch gezaehlt werden), ohne freie Tage. Wenn er ein bisschen clever ist, dann macht er Karriere und laesst in ein paar Jahren andere fuer sich arbeiten...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen