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Donnerstag, 30. September 2010

Ayodhya-Urteil


Vor 60 Jahren begann ein Streit, der nach einer Loesung sucht. In der nordindischen Stadt Ayodhya steht die Babri-Moschee auf einem Grund, wo angeblich vor langer Zeit einmal ein Hindutempel gestanden hat. An der Stelle wird die Geburt von Gott Ram verehrt. Der Streit eskalierte erstmals 1949. Radikale Hindus verschafften sich Zutritt zur Moschee und stellten eine Ram-Figur auf. Mit dem Erstarken des nationalistischen Hinduismus (BJP und Shiv Shena) nahm der Druck auf die Moschee staendig zu. 1992 wurde die von radikalen Hindus gestuermt und zerstoert. Der Konflikt forderte ungezaehlte Gewaltopfer in Ayodhya selber und in ganz Indien. Es ist ziemlich unbestritten, dass ungebildete Inder durch gewiefte Politiker zu illegalen Aktionen angestiftet werden. Seither ist das Gelaende durch die Polizei abgeriegelt. Die Gerichte tagen. Auf heute (29. Sept) wird das vorerst letzte Gerichtsurteil erwartet. Mit Spannung, denn die Wogen sind hoch. Die Regierung hat kurzerhand das Verschicken von SMS mit Bezug auf Ayodhya verboten. Hier in Trivandrum wurden deswegen vier Jugendliche festgenommen. In Mumbai hat man 4000 Personen aus einer Kundgebung verhaftet.
Vorschlaege, wie man den Religionskonflikt loesen koennte, gibt es genuegend. Anstelle eines Tempels oder einer Moschee koennte zum Beispiel ein Spital stehen. Eine gemeinsame Nutzung im Sinn eines Hauses der Religionen sei hier in Indien hingegen undenkbar.

Nachtrag: Wie man hoffentlich auch in europäischen Zeitungen lesen konnte, ist ein "salomonisches" Urteil gesprochen worden: Das Gelände und die Gebäude werden geteilt, zwei Drittel erhalten die Hindus, einen Drittel die Muslims, die Religionsgruppen werden vom Gericht aufgefordert, miteinander eine gemeinsame Nutzung auszuarbeiten. Das Urteil überrascht und erscheint im ersten Moment ganz interessant. Auf den zweiten Blick erscheint das Urteil problematisch. Zum einen muss man fragen, weshalb nicht hälftig geteilt wird. Aus diesem Grund werden die Muslime auch Berufung einlegen. Zum zweiten ist das Urteil problematisch, weil es im Nachhinein die Gewalttaten von 1992 moralisch und juristisch ein Stück weit legitimiert. Das eigentlich Schlimme am Urteil ist gemäss einem Kommentar von Historikern die Argumentation. Die drei Richter ziehen theologische Ueberlegungen bei (z.B. ob die Moschee damals wirklich nach islamischem Recht gebaut worden war) und lassen historische Erkenntnisse ausser Acht (z.B. ist die Existenz eines urprünglichen Ram-Tempels archäologisch gar nicht sicher belegt). In Europa leben wir sehr gut mit der Trennung von Religion und Staat. Unsere Gerichte lassen die Finger von theologischen Argumentationen. Und das ist auch gut so. Einer der drei Richter in Allahamabad verstieg sich in seinem Minderheitenvotum sogar zur Behauptung, der Geburtsort von Gott Ram stelle eine juristische Person dar.

Karma


Eine Erzaehlung aus dem beruehmten Epos Mahabharata:

Mahabhisha durfte wegen zahlreicher Verdienste im Swarga leben (eine Art Paradies). Eines Tages kam Ganga (ein Nymphe, symbolisiert den Fluss Ganges) auf Besuch. Durch einen Windhauch wurde ihr Schultertuch gehoben und man konnte ihre Brueste sehen. Waehrend alle anderen diskret wegschauten, starrte Mahabhisha auf den wunderschoenen Koerper. Das erzuernte Gott Indra und er liess Mahabhisha wieder auf die Erde zurueckschicken. Ganga wurde auch bestraft. Und mit dem Fluch belegt, dass sie erst wieder zurueckkehren duerfe, wenn sie das Herz von Mahabhisha gebrochen haben werde.
Mahabhisha wurde als Shantanu wiedergeboren. Ganga erschien, auf einem Delphin reitend, und Shantanu verliebte sich in sie. Er hielt um ihre Hand an. Ganga heiratete ihn unter der Bedingung, dass er nie ihre Entscheidungen in Frage stellen wuerde. Shantanu sagte zu.
Er wurde schwer auf die Probe gestell. Nach der ersten Geburt packte Ganga das Kind und ertraenkte es. Shantanu blieb ruhig, weil er Ganga nicht verlieren wollte. Beim zweiten Kind wurde von Ganga auf dieselbe Weise getoetet. Ebenso das dritte, vierte, fuenfte, sechste und siebte. Jedesmal wagte sich Shantanu nicht, Ganga zu stoppen. Beim achten Kind aber schrie er: Stopp, hoer auf, dieses Kind muss nicht auch noch sterben.
Da laechelte Ganga und sagte: Jetzt hast du dein Versprechen gebrochen. Ich werde in den Swarga zurueckkehren. Diese sieben Kinder, die getoetet habe, waren Inkarnationen von Goettern, die mit einem unheilvollen irdischen Leben gestraft worden sind. Ich habe ihr Leiden verkuerzt. Aber das letzte der acht konnte ich nicht retten. Aus ihm wird ein Mann werden, der nie heiraten wird koennen. Er wird dein Koenigreich nicht erben und stattdessen von einem Mann getoetet werden, der eigentlich eine Frau ist."
Shantanu wendete ein, dass er das nie zulassen werde. Ganga lenkte ein, dass sie den Sohn zu einem Krieger ausbilden werde und ihn dann zu ihm zurueckschicken werde. Dann verschwand sie mit dem Sohn.

Im Mahabharata wird die ganze indische Mythologie zusammen gefasst. Der Grundgedanke dieser Geschichte ist karma, das persoenliche Schicksal, dem kein Mensch entweichen kann.

Dienstag, 28. September 2010

Ich wuensch dich ins Pfefferland


ist eigentlich gar kein so abwegiger Wunsch. Das Pfefferland liegt im Sueden von Indien, in Kerala. Alexander der Grosse kam nicht bis dorthin, aber der Apostel Thomas und viel spaeter Vasco da Gama. Letzterer kam vor allem wegen des Pfeffers, das hier waechst und seither exportiert wird. Europa liebte den Pfeffer nicht nur wegen des Geschacks, sondern nutzte die Wuerze auch, um halbverdorbenes Fleisch einigermassen geniessbar zu machen.
Ich lebe hier drei Tage bei einem Gewuerhaendler. Sein Mitarbeiter hat mich heute morgen zu den Pflanzungen gefuert. Die Pfefferkoerner wachsen wie Perlen an Straeuchern. Je nachdem ob man schwarzen, gruenen oder weissen Pfeffer will, werden die Koerner im entsprechenden Reifestadium geerntet und getrocknet oder in Wasser kurz aufgekocht. Aehnlich waechst hier Kaffee und Kakao, Muskat und Anis. Deren Verarbeitung ist zum Teil sehr viel komplizierter. Ginger und Kurkuma hingegen sind Rhizompflanzen, die bereits schon nach einem halben Jahr geernet werden koennen. Es gibt hier etwa zehn Bananensorten, Papayas, Mangos, Kokos, Aepfel usw. Die groesste Frucht ist die Jack-fruit, die bis 40 kg schwer werden kann. Wenn so eine runterfaellt... Zimt wird aus der Rinde des Zimtbaumes gewonnen, wozu der Baum allerdings gefaellt werden muss. Einzig die Vanille ist hier etwas fremd. Sie waechst zwar, muss aber von Hand bestaeubt werden und leidet rasch unter Krankheiten.
Die meisten Gewuerze werden kleinraeumig von Bauernfamilien angebaut. Die Mischkulturen geben oekonomische Sicherheit und foerdern die Biodiversitaet. Mitten in den Kulturen habe ich ein grosses Chamaeleon und wunderschoene pfauenaehnliche Voegel gesehen.

Montag, 27. September 2010

Gummibaum


Obwohl Kerala sehr gruen ist und auf viele Touristen wie reine Natur wirkt, ist es im Grunde eine Kulturlandschaft. Seit Jahrtausenden werden die Lagunen von Menschenhand gestaltet, sind Kokospalmen gepflanzt und Waelder fuer Reisfelder und Plantagen gerodet worden. Besonders verbreitet sind die Gummbaeume, meistens in Plantagen angelegt. Im Unterschied zu Tee, der in den Huegel waechst, ist die Durchmischung in den Baumplantagen aber recht gut, vergleichbar mit den Mittellandwaeldern der Schweiz.
Die Gummibaeume werden "geritzt", dh. taeglich wird ein Stueck Rinde abgeschaelt. Der Baum "blutet" dann, dh. das Harz rinnt am Stamm herunter. Der wird in einer Schale aufgefangen, die am Baum haengt. Taeglich wird die "Milch" eingesammelt und mit Wasser und Saeure gemischt. Nach vier Tagen ist die Masse fermentiert. Sie wird dann in Maschinen zu Gummimatten gepresst (so wie wir Nudelteig herstellen). Die Matten werden entweder in der Sonne oder im Rauch (von der Kueche) getrocknet. Je nach dem wird das Gummi hell oder schwarz. Der ganze Prozess ist in den Haenden der Gummibaumfamilie. Die Gummimatten werden am Ende verkauft, pro kg zu aktuell Rs 170 (ca. CHF 4.-), was ein guter Preis ist. Vier Gummibaeume ergeben eine Tagesmenge von ca. einem kg. Die Baeume leiden wenig unter der Prozedur - ab dem achten Jahr geben sie ueber Jahrzehnte Gummimilch ab.

Gods own country

Das ist der Werbeslogan von Kerala. Er gefaellt, denn es nicht ganz klar, welcher Gott eigentlich gemeint ist. Hier leben viele Christen, aber noch mehr Hindus und - in den letzten Jahren zugewandert - auch viele Muslims. Kerala ist ein breiter Kuestenstreifen im Sueden von Indien und ist etwa so gross wie die Schweiz. Eine wunderbare Gegend, im Westen schoene Sand- und Felsstraende, dahinter die backwaters (Lagunen) mit unzaehligen Kokospalmen und gegen den Osten zu die Huegelkette West Ghats. Aus dem arabischen Meer und den backwaters kommen Fische, Krebse, Krabben, Tintenfische usw., in den Huegeln liegen die Tee-, Kaffee- und Gummibaumplantagen. Ausserdem wird hier Pfeffer, Kardamon, Ingwer, Zimt, Anis und weiteres angeplanzt. Auch die Heilpflanzen der beruehmten indischen Medizin Ayurveda kommen von hier.
Ich war bei einem Hotelfachschule-Studenten zu Hause, in der Naehe von Kottayam. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. In unmittelbarer Umgebung zu einem sehr einfachen, aber gepflegten und gemuetlichen Wohnhaus wuchsen Bananen, Ananas, Kokos, Pfeffer, Reis, Kartoffeln, Gummibaeume (das Gummi wird zu einem guten Preis verkauft), Kashewnuesse und eine Menge Ayurvedicpflanzen. Dazwischen grasen Kuehe und laufen Huehner frei herum. Ohne wirtschaftlichen, aber mit hohem aesthetischen Wert sind die Blumen, die riesigen Schmetterlinge und Libellen, die Singvoegel. Die Leute sind monetaer arm (verfuegen ueber wenig Geld), leben aber mit einer sehr hohen Lebensqualitaet. Ueber weite Strecken wirkt Kerala wie ein gigantischer Garten (ist ja auch Kultur- und nicht etwa Naturland!). Gods own country!
Von den drei Familien von Tijo wohnt die juengste Generation, mit Ausnahme einer Tochter, die noch zur Schule geht, allerdings nicht mehr dort, sondern in Dubai, Australien und in indischen Staedten. Auch der Vater von Tijo arbeitet in Dubai. Ich vermute, dass das Leben im Paradiesgarten auf die Dauer etwas langweilig wird. Die zurueck gebliebenen Ehefrauen machten auf mich einen leicht frustrierten Eindruck.

foto folgt

Donnerstag, 23. September 2010

Wie reich ist ein "Durchschnittsinder"?

Um den Vorurteilen im Westen, alle Inder seien bettelarm, mal ein Beispiel entgegenzuhalten.
Parvish und ich haben gestern einen Rikshaw-Fahrer nach seinen Arbeitsverhältnissen befragt. Rikshaws sind die schwarzgelben Taxis, die wendig auf drei Rädern durch den Verkehr kurven. Vorne einen Motorradlenker, hinten eine Sitzbank für zwei Gäste, das Ganze in einer kleinen Kabine. Rikshawfahrer sind Analphabeten (sonst hätten sie einen anderen Beruf) und wohnen mit ihren Familien in Slums. Ich würde sie nicht zur Mittelschicht zählen. Der Fahrer fuhr eine brandneue Rikshaw, die er vom Besitzer jeweils für eine Tagesschicht von 8 Stunden ausleiht. Die Nachtschicht (mit vielleicht ein paar Stunden Schlaf) macht ein anderer Fahrer. Unser Fahrer bezahlt RS 200 pro Schicht für die Rikshaw und nochmals etwa so viel für den Treibstoff (aus Umweltschutzgründen fahren in Mumbai und Delhi alle Rikshaws und Taxis mit "natural-gas"). Wenn er pro Stunde Rs 100 an Fahrkosten einnimmt und 20 Tage pro Monat arbeitet, verdient er netto Rs 8000/Monat (= 172 Schweizerfranken). Ich schätze die Lebenskosten hier in Mumbai auf etwa einen Zehntel bis einen Zwanzigstel der Schweiz. Auf jeden Fall wird man mit 100 Rs pro Tag satt - auf gesunde Weise. Die Lebensmittelkosten belaufens sich in dieser Rechnung auf 3/8 des Lohnes. Für einen ungebildeten Menschen in einem sogenannten Entwicklungsland ein gute Zahl.
Auf der anderen Seite: Eben hat in Süd-Bombay eine alte Villa für umgerechnet 64 Mio CHF den Besitzer gewechselt. Die neuen Besitzer möchten ein Hochhaus bauen.

das Entsorgen von Gottheiten

Das grosse Ganeshin stellt eine riesige Verschmutzung von Mumbais Stränden dar. Nicht dass es sich dabei um Badestrände im europäischen Sinn handelt - dafür ist das Meer zu rauh, das Wasser zu trübe, das Wetter zu heiss und die Inder zu prüde -, aber als Lebens- und Erholungsraum von Mensch und Tier sind die Strände eben doch wichtig. Beim Ganesh-immersion werden zig-Tausende von Figuren in der Grösse von wenigen cm bis zu 4 m ins Meer getragen und dort gelassen. Dazu kommen noch Tonnen von Girlanden und Opfergaben (Kokosnüsse, Blumen, Milch; vieles davon noch in Plastikbeuteln). Ursprünglich waren die Figuren aus ungebranntem Ton gefertigt, heute sind es leider oft Stiropor, Montageschäume und ähnliches. Hinzu kommt, dass die grellen Farben vermutlich Schwermetalle enthalten.
Das Bewusstsein um die Problematik steigt, aber mit dem zunehmenden Reichtum vieler Inder und dem Wachstum der Stadt werden halt auch die Ganeshas grösser und zahlreicher. Die Umweltgruppe SPROUTS, mit der ich oft unterwegs bin, bietet eine workshop zur Herstellung von Eco-Ganesha an. Es gibt Familien, die den Wegwerf-Ganesha durch einen edlen Ganesha ersetzen, den sie nur ins Wasser eintauchen, aber nicht versenken. Wieder andere kaufen sich einen Silberganesha und verschenken ihn am Ende dem "pandit", dem Priester, den man für das ganze zehntägige Zeremoniell engagiert.
Natürlich musste ich auch vor Ort sein. Nicht nur beim Ganesh-immersion, sondern auch beim clean-up am nächsten Morgen. Es ist ein eigenartiges Gefühl, Teile von Götterfiguren aus dem Sand zu zerren und auf Lastwagen zu entsorgen...

Mumbai im Ganesha-Fieber


Kurz auf das Krishna-Fest folgt in Mumbai und Pune "Ganapatin", das Fest mit dem bekannten Elefantenkopfgott Ganesha. Er ist Sohn von Shiva und Parvati. Der Sohn wurde während einer längeren Abwesenheit geboren. Als Shiva nach Hause nach Jahren nach Hause kam, versperrte Ganesha ihm den Weg, weil er seinen Vater für einen Fremdling hielt. Shiva schlug zu, ohne lang zu überlegen, und hieb ihm den Kopf ab. Kurz danach erfuhr er die Zusammenhänge. Er befahl einem Diener, ihm den Kopf des ersten Lebewesens zu bringen, dem er habhaft werden könne. Aus diesem Grund haben Inder Erbarmen mit dem armen Ganesha. Deshalb darf er in keinem Tempel, in keinem Gottesdienst fehlen und wird sogar als erster angerufen.
Anfang September wurde viele Ganesha-Figuren gekauft oder selber hergestellt. An einem bestimmten Tag verlassen alle Ganeshas ihre Tempel und besuchen die Leute zu Hause. Wer es vermag, lässt hierzu einen Mandal vor seinem Haus aufstellen, eine Art temporärer Tempel. Dort finden dann zehn Tage lang Feste statt.
Der Höhe- und Schlusspunkt ist dann die "immersion", das Transportieren und Eintauchen der Gottfiguren im Wasser.
Das Ganeshafest wurde ursprünglich nur von den Brahmanen gefeiert. Bal Gangadhar Tilar (gest. 1920) übertrug das Fest auf das ganze Volk, als Zeichen des indischen Widerstands gegen die britische Herrschaft. Heute werden riesige, bis zu vier Meter hohe oder dann sehr teure Figuren hergestellt und im Meer versenkt. Eine Schulklasse sammelte dieses Jahr Geld und konnte der Öffentlichkeit einen Ganesha aus 5 kg reinem Silber präsentieren. Auch diese Figur wurde versenkt. Ich war auf dem wichtigsten Platz, auf dem Chowpatty-Beach, zusammen mit rund 1 Mio anderen Menschen. Auch wenn das Fest von Politikern zur eigenen Propaganda missbraucht wird, freuen sich unzählige Hindus über Ganeshin. Die abendlichen Feiern und die Umzüge in Richtung Meer errinnern an die Street- und Loveparades in den europäischen Städten.


Mittwoch, 22. September 2010

Commenwealth-Games in Delhi

Nun hat Indien, bzw. Delhi die endgültige Blamage. Vor vielen Jahren erhielt Delhi den Zuschlag für die Commenwealth-Spiele. Das ist ein Anlass in der Grössenordung der olympischen Spiele. Die Erstellung der Stadien, Unterkünfte, Verkehrsmittel ging dann aber nur schleppend voran. Das indische "governement" ist schlicht überfordert. Von Woche zu Woche wird kritischer über den Stand der Arbeiten berichtet. Die offiziellen Stellen, die Politiker beteuern zwar, sie hätten alles im Griff. Das langfristige Planen gehört eher selten zu den indischen Tugenden. Die Bautätigkeiten laden zur Korruption hingegen geradezu ein.
Letzte Woche wurde bekannt, dass das so oft gepriesene Sportler-village zwar mehr oder weniger fertiggestellt, aber vernachlässigt worden ist. Weil die Wohnungen nicht abgeschlossen und bewacht worden waren, sind sie teilweise illegal bewohnt worden. Die Teams aus Neuseeland und Kanada haben schon angekündigt, sie wollten dort dann nicht untergebracht werden.
Weitere Schäden an Stadien, Sportplätzen und Unterführungen ist durch die jüngsten Monsunüberschwemmungen entstanden. Ein Problem, von dem Indien eigentlich nicht überrascht sein dürfte. Die Spiele werden in zwei Wochen eröffnet.
Gestern nun fiel eine neu gebaute, wichtige Fussgängerbrücke zusammen. Das Bild ging vermutlich rund um die Commenwealth-Welt.

Montag, 20. September 2010

arm und reich

Eines der hartnaeckigsten Vorurteile gegenueber Indien im Westen ist die Armut. Es gibt sie und sie ist sichtbar, auch wenn die Bettler sicher nicht zu den Aermsten gehoeren. Betteln ist in Indien ein Beruf - oder zumindest eine Familientradition - und Almosen-geben eine religioese Pflicht. Deshalb treten die Bettler auch vorwiegend an religioesen Orten (und Touristenzentren) auf. Offiziellen Stellen gehen davon aus, dass etwa die Haelfte der Inder und Inderinnen unter Armut leiden, dh. von der Hand in den Mund leben. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, dass die Haelfte des 1.2 Millarden-Volkes mehr oder weniger zur Mittelschicht gezaehlt werden kann. Die Oberschicht ist zahlenmaessig sehr klein. Es leben also zwischen 200 und 500 Mio Mittelschichtleute in Indien. Vergleiche diese Zahlen mal mit Europa.
Naturgemaess bewege ich mich ausschliesslich innerhalb der Mittelschicht. Die Unterschicht spricht nicht Englisch, die Oberschicht lebt fuer sich. Ich war bei recht vermoegenden Leuten zu Gast: Familie mit zwei schulpflichtigen Toechtern, zwei Autos, drei Motorraedern, und einem Fahrrad (weil die Juengste noch kein Motorrad fahren darf).
Der Reichtum der Mittelschicht beruht auf mehreren Faktoren: gute Jobs in international taetigen Firmen oder beim Staat, Fleiss und guenstige Dienstleistungen (Putzfrau, Koechin, Chauffeur, Gaertner usw.) durch die Unterschicht.
Das Wachstum ist immens. Ich habe niemanden, auch nicht aus der Unterschicht, kennen gelernt, der nicht massiv besser lebt als seine Eltern vor 20 Jahren. Meine Freunde hier gehen von einer Verdoppelung des Lebensstandarts innerhalb einer Generation aus. Das hohe Wachstum wird allerdings durch das noch hoehere Bevoelkerungswachstum und die Inflation relativiert.
In dieser Phase des Wirtschaftswachstums kommen einige Leute zu unglaublich hohen Geldsummen. An den schoensten Orten in Indien (z.B. Goa) kann man noch Land fuer wenige Rupien den Quadratmeter erwerben - und dann wie im Monopoly Hotels bauen. Den besten Schnitt machen aber nicht mal die Baufirmen, sondern die Spekulanten, Investoren und korrupten Politiker und Richter. Die Laendereien muessen ja jeweils umklassiert werden...

Zur Zeit wird eine massive Verteuerung der Lebensmittelpreise beklagt. Darunter leiden natuerlich die Armen besonders, weil ihre Lebenskosten in erster Linie fuer Lebensmittel anfallen. Doch gleichzeitig sind die Armen auch die Produzenten der Nahrung - auf dem Land die Bauern, in den Staedten die Haendler, Zuruester, Koeche usw... Ohne Preissteigerung werden sie nie zur Mittelschicht aufsteigen koennen.
Ein typischer Emporkoemmling hat mir gestern seine story erzaehlt. Der junge Mann stammt aus einer Bauernfamilie mit drei Kindern, irgendwo aus einem Dorf aus dem Norden. Er hat "eleven degree", d.h. das 11. Schuljahr erfolgreich abgeschlossen. Jetzt arbeitet er eine Saison lang als Kellner hier in Goa, taeglich 18 Stunden (wobei die vielen Stunden herumhocken auch gezaehlt werden), ohne freie Tage. Wenn er ein bisschen clever ist, dann macht er Karriere und laesst in ein paar Jahren andere fuer sich arbeiten...

Wer bezahlt die sogenannte Entwicklung?


Vor zehn Jahren ist die River Princess, ein Containerschiff, am Strand von Goa aufgelaufen. Dort liegt sie noch heute, zehn Jahre spaeter. Seither streiten sich die Eigentuemerin, die Versicherung, diverse Behoerden und der indische Staat, wer das Schiff bergen muss/soll/darf und zu welchen Bedingungen.

Goa besteht aus Waeldern, Fluessen, Lagunen, Mangroven, Inseln. Wenn man von Panaji (Hauptstadt) den Mandovi-Fluss ueberquert und mit einer zweiten Faehre einen anderen Flussarm, dann gelangt man auf eine kleine Insel. Das Land, worauf eine Handvoll Haeuser, ein paar Huetten, ein Friedhof und eine ansehnliche Kirche stehen, gehoert der katholischen Kirche. Der Bischof hat das Land nun fuer ein Butterbrot an eine Investorengruppe verkauft, die dort ein Hotel mit Spa, Golfplatz usw. erstellen werden. Das Projekt ist nicht das einzige, aber das prominenteste. Zum einen wegen seiner Groesse, zum zweiten weil der Bischof verkauft hat, was ihm offenbar gar nicht voll gehoert, zum dritten wegen der intakten Natur (Mangroven sind geschuetzt) und zum vierten, weil die ansaessigen Leute seit Generationen dort leben. Und das nicht schlecht. Der Fischfang ist sehr ertragreich.

Ueberall in Goa sind Landschaft, Natur, Grundwasser und Doerfer vom "mining" bedroht. Wie auf Satellitenbildern zu sehen ist, werden im Hinterland riesige Waelder durch oft illegalen Bergbau (Eisen, Bauxit) zerstoert. Der persoenliche Zugang zu den Gebieten wird durch Patrouillen verhindert. Ein Aktivist zeigte gestern seine Kamera, die von den Patrouillen zerschmettert worden ist.

In den Fluessen und Lagunen (Foto folgt) schaufeln einfache Leute auf primitiven Booten Sand vom Flussgrund und transportieren das Material zu den grossen Schiffen der Zementfirmen. Das kommt billiger als den Sand maschinell abzubauen. Zwar gibt es ein paar wenige Konzessionen fuer diesen Sandabbau. Aber wer kann schon die vielen Boote zaehlen?

Beauftragt mit dem Schutz der Natur ist das forest-and-environment-department. Selbst wenn man diesen Leuten zugesteht, dass sie gute Arbeit leisten wollen, muss man zugeben, dass sie nicht viel ausrichten koennen. Fuer eine Flaeche von durchschnittlich 150 km2 verantwortlich sind 4 Rangers, die weder ueber ein Fahrzeug noch ueber Waffen verfuegen.

Wen wundert es, dass in Indien die Korruption blueht? Auf meine Frage an einen der betroffenen Bauern erhielt ich die Antwort: Bezahlen werden vor allem unsere Kinder, von uns allen, weil die natuerlichen Ressourcen zerstoert sein werden.

Goa, hinter den Straenden

Goa war 400 Jahre unter portugiesischer Herrschaft. Die Portugiesen blieben auch länger als die Engländer und mussten am Ende sogar mit Gewalt verjagt werden. In Goa haben sie viel mehr bauliches Erbe hinterlassen als die Engländer im Rest von Indien. Ich war in den Panaji und Margao, wo grosse Teile der historischen Zentren noch vom typisch portugiesischen Kolonialstil gepraegt sind: ueberdachte Terrassen, Bogenfenster, Kombination von Holz und Stein, schmale Vordaecher über den Fassaden. Ebenfalls auf den portugiesischen Einfluss zurück geht der starke Katholizismus. Die Katholiken machen zwar nur 20% der Bevölkerung aus, sind aber viel präsenter als die Hindus. In Goa gibt es Kirchen, Kathedralen, Dome, Konvente. Die Gottesdienste und Messen sind sehr gut besucht. Ein Karmeltermönch beklagte sich mir gegenüber allerdings, dass das gemeinsame Rosenkranzgebet durch das Konsumieren von TV-Series verdrängt worden sei. Gestern stiess aber auf eine Gruppe Jugendlicher, die an irgendeinem Gartenzaun beteten und fröhliche Lieder sangen. Sie würden das jedes Jahr an der gleichen Stelle tun. Warum konnten oder wollten sie mir nicht erklären. Nach einer Gedenkstelle für einen Todesfall sah es jedenfalls nicht aus.
Die Goaner leben in einem grossen Paradies, wie sie selber sagen. Tatsächlich ist das Land so fruchtbar und die Fischgründe in den Lagunen so ertragreich, dass es im Prinzip keine Armut geben dürfte. Durch Saufgelage-Tourismus, Mega-Projekte und vor allem Bergbau ist das Paradies akut bedroht.

Sonntag, 19. September 2010

Tourist – oder was bin ich?


Dass ich über Wochen keinen „Nicht-Inder“ sehe, hat zwei Gründe. Zum einen bewege ich mich wenig in touristischen Gegenden, zum anderen wird Indien während der Monsunzeit von Ausländern gemieden. In Mumbai lebe ich im Raum Andheri. Erst einmal bin ich die 1 ½ Stunden nach South-Bombai gereist, wo die Sehenswürdigkeiten liegen. Dort habe ich drei Europäer/Amerikaner/Australier gesehen. Wir Weisse fallen hier sofort auf. Dort zwischen Gateway of India und Taj-Hotel werden wir als Touristen von aufdringlichen Händlern und Bettlern angesprochen, sonst nicht. Was bin ich aber dann ausserhalb dieser Orte? Vorgestellt werde ich als „foreigner“ - Ausländer. Inder reisen selber auch sehr gern und viel, insofern hat es überall viele „Fremde“, die nach dem Weg fragen müssen und von Taxifahrern und anderen übers Ohr gehauen werden. Von Europäern weiss ich, dass sie sich selber nicht gern als Touristen bezeichnen. Warum eigentlich nicht? Sofern man unter Touristen nur jene Leute versteht, die sich mehr für Sehenswürdigkeiten interessieren als für den Alltag der Ansässigen, die ihre Rechte als bezahlende Kunden einfordern und sich weniger auf die komplexeren Strukturen von Gastfreundschaft einlassen, sind viele Indienreisende tatsächlich keine Touristen. Aber was bin ich dann? Ein neugieriger Reisender? Ein – hoffentlich gern gesehener – Gast? Am schönsten ist es, wenn ich als Freund vorgestellt werde.
Nachtrag: Hier in Dharamsala (resp. Mcloadganj), wo der Dalai Lama und viele Tibeter Aufnahme gefunden haben, hat es Leute aus allen Ländern (ausser China). Die „Weissen“ sind entweder Freaks oder junge oder alte Frauen mit verklärten Gesichtern. Hier fällt aber niemand auf. Überraschenderweise ist der Ort äusserst unruhig und lärmig bis spät in die Nacht hinein.
zweiter Nachtrag: Goa ist die klassische Tourismusdestination seit vielen Jahrzehnten. Das muss ich natuerlich auch sehen. Wir Auslaender machen hier keine gute Falle, die indischen Touristen allerdings auch nicht. Wenn die Saison im Oktober wieder anfaengt und die Russen, Deutschen, Israeliten usw. kommen, geht es wieder um Beachparties und ums Saufen...

Freitag, 17. September 2010

Reisen in Indien


Die Distanzen in Indien sind weit und die Reisegechwindigkeiten langsam. Es gibt zwar highways, die stehen aber auch Kuhherden zur Verfügung. Die Transportwege werden tuechtig ausgebaut, vor allem in den Grossstädten und rund um sie herum. In Mumbai benötigen sie einen zweiten Flugplatz (fuer 20 Mio Einwohner!), die Strassen haben oft die Dimensionen von Landebahnen.
Fuer gräösere Distanzen fliege ich gewöenlich, was recht guenstig ist (z.B. Goa-Mumbai Fr. 75.-). Das Buchen ist ganz einfach, man benötigt dazu ein Internetcafe mit einem Drucker (oder ein indisches handy) und 15 min. Zeit.
Ich bin aber auch schon Zug gefahren. Das Ticket ist 5x guenstiger als der Flug, ich muss es mir aber besorgen lassen. Das Reservationssystem der Zuege ist sehr intelligent. Am Bahnsteig findet man ein Liste mit den Reservationen. Dort sucht man den eigenen Namen und ist dann sicher, dass der Sitz oder das Liegebett nicht doppelt vergeben ist. Mit dem Zug zu reisen ist lustig und - wenn man mal eingestiegen ist - gemütlich. Auf einer Fahrt sass ich im Wagon hinter der Zugkueche. Die produzieren rund um die Uhr Köstlichkeiten, die fuer beinahe nichts verkauft werden. Allerdings hatten die Köche die Gewürze jeweils recht kraeftig angebraten, worauf dann ein gemeinsames Hust-Konzert in unserem Wagon eingesetzt hatte. In Kerala reiste ich eine 2-Stunden-Strecke und kam mit zwei Brüdern ins Gespräch. Der eine arbeitet in Mumbai, der andere hat sich um dort um eine Ausbildung beworben. Sie sind die ganze Strecke Mumbai bis ganz an die Südspitze Indiens mit dem Zug gefahren. 1804 km in 30 Stunden.
Etwas luxuriöser ist das Reisen in den Cars. Da gibt es solche mit A/C, Television usw. Da die Inder aber eher klein sind und ich gross, fühle ich mich auf den Sitzen ähnlich eingeengt wie in der Economy-Class eines Fliegers. Nur dauert die Reise eben länger.
In den Städten reist man per Bus, Metro (Delhi) oder Citytrain (Mumbai). Das Herausfinden der richtigen Verbindung ist auch fuer Inder nicht ganz einfach. Die Busse sind oft nur in Hindi angeschrieben. Ich frage jeweils moeglist viele Leute und waege dann die unterschiedlichen Antworten gegeneinander ab. Bus, Metro und Citytrain bezahlt man mit Kleingeld.
Das abenteuerlichste Verkehrsmittel aber ist die Rikshaw. Das sind motorbetriebene Gondeln auf drei Raedern, die sich wendig durch den Verkehr hindurchkämpfen. Am Anfang und am Schluss jeder Rikshaw-fahrt stehen allerdings die Preisverhandlungen. Am 1. Okt verliess ich den Domestic-airport in Mumbai. Sofort stürmten mehrere Taxifahrer auf mich zu. Ich sagte ich wolle eine Rickshaw. Die Rickshaw-Fahrer boten mir die Fahrt nach Andheri zunächst für 350 Rupien an. Ohne zu antworten stieg ich wieder aus. Nach ein paar Schritten hielten sich mich zurück. Ich entgegnete, ich sei ja nicht dumm. Ich würde maximal 100 Rs bezahlen. Sie meinten das sei ausgeschlossen. Irgendwie kamen dann noch drei Polizisten hinzu, die wussten den Preis aber auch nicht so genau. Auf das Taximeter kann man sich auch nicht verlassen. Wenn man darauf abstellt, fahren die Rickshaws einfach Umwege. Ich vereinbarte den Taximeterpreis oder 100 Rs. In Andheri angekommen, gab sich der Fahrer mit 50 Rs zufrieden. Ich gab ihm aber 100 Rs, zum einen weil ich es so abgemacht hatte, zum andern weil die Taxifahrer zum ärmeren Bevölkerungsteil gehören.
Ganz spannend waren die Ausflüge auf einem Motorrad. Im Juni hatte mich ein Englischlehrer in Srirampur auf einen Sonntagausflug nach Shirdi mitgenommen. Und in Goa hatten Gaurav und ich ein Moto für einen Abendausflug gemietet. In Goa kann man an fast jeder Strassenecke Motorräder für ein paar Stunden mieten. In Goa gibt es auch "pilotes", das sind eine Art Motorrad-Taxis.

Goa

Fuer ein paar Tage wollte ich auch noch Goa sehen, das klassische Ferienparadies mit den wunderschoenen Palmstraenden. Zum Glueck bin ich ein paar Wochen vor der Saison gekommen. Im Oktober werden die Russen, Deutschen, Italiener, Araber, Israeli usw. erwartet. Ich habe mit einem Nepali gesprochen, der drei Jahre lang Barkeeper auf einem Kreuzfahrtschiff war. Mit zwei Kollegen bauen sie einen Palmblaetterverschlag aus, stellen Stuehle hin und drehen die Musik laut auf. Und dann fuellen sie die Gaeste mit Rum ab.
Goa war lang eine portugiesische Kolonie. Sie haben viele huebsche Kolonialvillen, Kapellen und Kirchen hinterlassen. Einiges davon zerfaellt, der Katholizismus aber bleibt. Das Land ist sehr fruchtbar, das Wetter angenehm warm, das Essen international und sehr gut. Ausserdem gibt es billigen Alkohol in Menge.
Fuer viele Indienreisende sind die Straende Goas ein Muss. Interessant ist zu beobachten, wie die Kulturen immer noch aufeinander stossen: blonde, allein oder zu zweit reisende Frauen ziehen hinter sich her eine Schar von indischen Burschen, die nicht so recht wissen, wie sie die hotpants der Weissen zu interpretieren haben. Aber das wissen die blonden Touristinnen wohl selber auch nicht so richtig. Wie man weiss, haben sich in den 70er und 80er Jahren auch viele Auslaender in Goa nieder gelassen. So bluehen manche "Sekundaer-Tourismus-Angebote" wie Tattoo-Shops, Kunstlaedeli, Dive-Centers usw.
Die Fotos folgen noch, ebenso ein Bericht ueber das andere Goa, das Goa hinter den Straenden, das ich ab morgen kennen lernen werde.

Freitag, 10. September 2010

immer wieder die alten Kasten

In den Kopfzeilen der westlichen Medien erscheint diese Tage die Mitteilung, dass die indische Regierung beschlossen hat, im Nachgang zur gross angelegten Volkszählung (2010/2011) die Kastenzughörigkeit, resp. Religion zu erheben. Das ist in Indien ein grosses Politikum.
Es handelt sich um ethisches Dilemma, weil man vermutlich nicht allen gerecht werden kann. Auf der einen Seite sind die Kasten längst abgeschafft worden. Sie spielen im modernen Indien keine zentrale Rolle, ausser bei der Wahl des Ehepartners. Das ist aber eine persönliche und familiäre Angelegenheit, in die sich der Staat nicht einmischen soll. Ebenso wenig haben wir in der Schweiz ein Gesetzt, das Deutschschweizer zur Ehe mit Welschen zwingen würde. Weil die Kasten offiziell abgeschafft sind, dürfte es eigentlich auch keine Erhebung der Kastenzughörigkeit geben.
Auf der anderen Seiten profitieren die ehemals Kastenlosen (Dalits) von Förderprogrammen und Quoten. In der ganzen riesigen Verwaltung, wozu auch die Universitäten und die Eisenbahngesellschaft (grösste Arbeitgeberin der Welt) gehören, sind anteilmässig Plätze für Minderheiten reserviert. Zu diesem Zweck muss der Staat aber wissen, wie gross die Minderheiten sind. Jede Volksgruppe (und die sie repräsentierenden Politiker) hat natürlich ein Interesse daran, dass die Anzahl ihrer Mitglieder möglichst hoch eingeschätzt wird. Die Erhebung der offiziell nicht mehr existierenden Kastenzugehörigkeit wird Klarheit bringen.
Oder auch nicht. Die Erhebung könnte auch zeigen, dass viele Inder, vor allem unterprivilegierte, die weder schreiben noch lesen können und ihr Dorf kaum je verlassen haben, mit der Frage nach ihrer Kastenzugehörigkeit überfordert sind...

Donnerstag, 9. September 2010

das dritte Geschlecht

Vor ein paar Wochen konnten wir in einer Schweizer Zeitung lesen, dass Indien und Pakistan das dritte Geschlecht anerkennen. Es gibt nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Menschen, die weder noch sind. Ich habe bei Parvish nachgefragt, immerhin ist er Biologe. Bei der Rekombination der Gene kann es zu Fehlbildungen der Chromosomen kommen. Bekannt ist das Down-Syndrom. Träger des Turner-Syndrom verfügen nicht über zwei X-Chromosome (wie Frauen), sondern nur über ein einziges X-Chromosom. In der Folge werden Gebärmutter und Eierstöcke fehlerhaft gebildet, was die Hormonproduktion verunmöglicht. Das Wachstum allgemein und besonders der sekundären Geschlechtsteile wird nicht initiiert.
Im Westen gilt das Turner-Syndrom als genetische Krankheit. Die Träger (oder Trägerinnen) werden mit Wachstumshormonen behandelt, sind durchschnittlich intelligent und führen ein normales Leben, ohne allerdings Kinder gebären zu können.
In Indien leben viele dieser Menschen in ihren Herkunftsfamilien. Andere hingegen bilden eine eigene Gesellschaft: die Hijras. In dieser marginalisierten Gruppe finden sich auch transsexuelle und entmannte Menschen wieder. Die Hijras bilden eine streng organisierte Gesellschaft mit eigenem Selbstbewusstsein. Sie verehren Bahuchara Mata, eine Göttin aus Gujarath. An Hochzeiten treten die Hijras als Glücksspender auf. Das ist nicht sehr einträglich, weshalb auch die Prostitution sehr verbreitet sei.
Kulturell interessant finde ich, wie mit dem Turner-Syndrom umgegangen wird. Was im Westen als Krankheit abgetan wird, hat sich in Indien zu einer Identität durchgerungen. Von allen Ländern der Welt anerkennen nur Indien und Pakistan das dritte Geschlecht. Ausgerechnet diese beiden Nationen, die sich stets gegeneinander abgrenzen.

Korruption


In der Schweiz kennen wir Korruption eigentlich nur im grossen Stil, zum Beispiel wenn einem Politiker ein Verwaltungsratposten oder eine Beratertätigkeit für die Jahre nach seinem Rücktritt angeboten wird.
Auch in Indien geht es manchmal um richtig viel Geld. Ein Beispiel: die ganze Bautätigkeit in Navi Mumbai (siehe blog dazu) wird durch ein staatliches Unternehmen koordiniert, welches auch das ganze Land besitzt. Ohne Korruption läuft da nichts, erklärte mir ein lokaler Bauunternehmer. Er sei vor einem Jahr vom lukrativen Rohstoffhandel aufs Bauen von Hochhäusern umgestiegen und verdiene aktuell 12'000 Dollar monatlich.
Auch im Kleinen wird bestochen. Gestern überfuhr mein Taxi-Chauffeur ein Rotlicht und wurde von einem Polizisten gestoppt. Der Chauffeur nahm es gelassen und steckte dem Ordnungshüter eine 50-Rupien-Note zu. "Sie akzeptieren immer. Die Busse beträgt 100 Rupien. Auf diese Art machen wir halbe-halbe."
Immerhin wird Korruption in Indien streng bestraft. Es gibt auch eine Anti-Korruptions-Polizei. Die Auflagen der Beweisführung seien allerdings sehr hoch. Weil sich beide Seiten strafbar machen, sind Zeugenaussagen selten.

Dienstag, 7. September 2010

Die Fischer von Mumbai

Von Dingen, die mich neben Gotteshäusern und Wildlife auch noch interessieren, will ich heute berichten. Heute Nachmittag bin ich den Fischen nach gegangen, die wir so gern frisch auf dem Teller haben. Nicht weit von Andheri, irgendwo an der Küste mitten in der Millionenstadt Mumbai liegt Versova-Village. Um vier Uhr Nachmittags kommen dort die Fischerboote mit ihren Fängen zurück. Die meisten erst nach mehreren Tagen. Am Sandstrand werden die Fische entladen, sortiert und auf Eis gelegt. Über viele Hände (und Händler) gelangen sie dann in die Stadt, wo sie am gleichen Abend verkauft werden. In den feinen Netzen bleibt fast alles hängen: Bombay-Duck, Makrelen, Sol, Crevetten, Krebse, Langusten, Aale, Brassen, Tintenfische, auch Stingrays und Katzenhaie. Der Beifang wird nicht wie anderswo zurück ins Meer geworfen, sondern zu Düngemittel verarbeitet. Was nicht frisch verkauft werden kann, wird an haushohen Bambusgestängen aufgehängt und getrocknet. Thunfisch (siehe Bild oben) wird filettiert, gesalzen und dann getrocknet.

Ich konnte auch eine Eisfabrik besichtigen. In einer grossen Halle werden 200kg-Blöcke gefroren, offen auf Lastwagen verladen und zum Kunden gebracht. Vor Ort wird der Eisblock geschreddert (die Maschine sieht etwa aus wie ein kleiner Betonmischer) und in Säcke abgefüllt. Diese tropfenden, schweren Säcke werden von kräftigen Männern geschultert und an den Sandstrand hinunter getragen. Die Firma produziert auch kleinere Eisblöcke. Die werden in grobe Tücher eingewickelt und meist per Velo verteilt. Zahlreiche kleine Strassenhändler sind auf dieses Eis angewiesen. Das ist just dieses Eis, vor dem die Reiseführer warnen.

Samstag, 4. September 2010

Navi Mumbai

An die Menschenmassen muss man sich erst einmal gewöhnen. Die Bilder von überfüllten Zügen und dem Chaos auf den Strassen sind uns vertraut. Man blickt kaum in irgendeine Richtung, ohne gleichzeitig Dutzende Menschen im Blick zu haben und Hunderte im Hintergrund wahrzunehmen. Das enge Zusammenleben führt zu Parallelgesellschaften einerseits und einer hohen Toleranz andererseits. Beides sind wichtige Aspekte der indischen Kultur.
In Mumbai leben besonders viele Menschen. Auf dem Stadtgebiet 14 Mio, in Greater Mumbai sind es etwa doppelt so viele. Damit ist Mumbai etwa die viertgrösste City der Welt. Vor 25 Jahren begann man mit dem Bau von Navi Mumbai. Auf dem ehemals salzigen Marschland zwischen Mumbai und Thane werden seither breite Strassen gebaut, moderne Hochhäuser, Parks, Eisenbahnstationen, Malls und jetzt neu auch ein zweiter airport errichtet. Navi Mumbai zählt mittlerweile fast 2 Mio Einwohner, vorwiegend aus der Mittelschicht. In der Mitte entsteht nach dem Vorbild von Manhatten ein Centralpark, natürlich grösser als das Vorbild. Daneben liegt der Golfplatz.
Es ist die grösste geplante Stadt Asiens. Die Unterschiede zu Chandigarh (siehe jenen blog) sind interessant. Während im nördlich von Delhi nur zwei- und dreistöckig gebaut wird, geht hier in die Höhe. Wie man mir sagt, fühlen sich die Nordinder eher in Pavillons mit Garten und Sonne wohl, während die Mumbai-people gern die Aussicht geniessen. Die Aussicht in Navi Mumbai ist prächtig: im Süden hinter dem Mangrovengürtel das Meer, im Norden grüne, unbewohnte Hügelketten. Wie in Chandigarh ist die Stadt in Sektoren von rund einem Quadratkilometer eingeteilt. Auf die streng rechtwinklige Struktur wird zum Glück verzichtet. Ein paar Stadtteile zusammen bilden einen Stadtteil.
Die Stadtplanung liegt seit 30 Jahren in den Händen eines staatlichen Unternehmens, das alles Land besitzt und an Investoren abgibt. Im Unterschied zu den meisten indischen Städten und Dörfern werden hier die Wohnungen vermietet. Natürlich wollte ich wissen, wie die Stadtplaner mit den Religionen umgehen. Werden die Tempel, Gurudhwaras, Moscheen und Kirchen auch eingeplant? Für sie ist ein eigener Sektor reserviert. So liegen die verschiedenen Gotteshäuser in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander.

Kirshna-Bewusstsein

Die traditionellen Glaubensformen in Indien sind in den letzten Jahrzehnten von drei amerikanisch inspirierten Gruppen bereichert worden.
1897 starb Ramakrishna. Durch den legendären Auftritt seines Schülers Vivekananda an der Welt-Religionskonferenz in Chigaco 1893 wurde die Lehre von Ramakrishna weltweit bekannt. Sie zeichnet sich durch eine hohe Religionstoleranz aus. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste, Rasse, Nation, Religion spielt in der Ramakrishnamission keine Rolle. Jeder Mensch ist eine Manifestation des Göttlichen. Während sich die Ramakrishnamission auf die Sozial- und Bildungsarbeit innerhalb der Bevölkerung konzentriert, umfasst der Ramakrishnaorden eine Mönchsgemeinschaft.
Im Westen ebenfalls sehr bekannt ist Osho (zuerst wurde er Acharja Rajneesh, dann Baghwan Shree Rajneesh, und zuletzt Osho genannt). Er war Philosophieprofessor mit einer offenbar immensen Ausstrahlung. Seine Schüler formierten sich zu den Sannyasins, zogen sich orange Kleider an und lebten eine freie Sexualität. Der hochgescheite Lehrer konnte sich der Dynamik seiner Anhängerschaft und eigenen Schwächen (Sammlung von Roll-Royces) nicht immer entziehen. Nach zahlreichen Umformulierungen (z.B. wurde die freie Sexualität nach der Entdeckung von AIDS aufgegeben) und Gerichtsprozessen verlor die Bewegung an Bedeutung. Sie hatte viele Menschen geprägt, so z.B. Peter Sloterdijk.
Auf einem Höhepunkt befindet sich derzeit ISKCOM, die internationale Gesellschaft zur Förderung des Krishnabewusstseins. Sie betreibt in vielen Grossstädten grosse Zentren mit Schulen, sozialen Einrichtungen, Tempeln und bietet fröhliche Feste für die ganze Bevölkerung an. Bekannt ist ihr Gebetsruf "Hare Krishna Rama Krishna". Die Lehre wirkt sehr "reformiert". Sie ist sehr tolerant und hält auch andere religiösen Überzeugungen hoch. Swami Pradhupada war der Ansicht, dass wir uns nicht mit "Mittelsgottheiten" aufhalten sollen, sondern direkt zum göttlichen Bewusstsein gelangen können. 1965 setzte er sich in New York in einen Park und begann, Hare-Kirshna-Songs zu chanten. Er fand recht bald Anghänger, mit denen er die ISKCON gründete. Von den USA gelangt der Hinduismus wieder zurück nach Indien.
Diese drei religiösen Richtungen wirken in Indien ein bisschen fremd, halt amerikanisch. Ihnen ist aber zu verdanken, dass die alten Weisheiten aus den heiligen Schriften wieder neu formuliert und ausgelebt werden (z.B. der poppige Hare-Krishna-Song im Film Easy Rider). Der Hinduismus erfährt eine Art Erweckung oder Spiritualisierung. Allerdings bleibt dabei manches auf der Strecke, was den Indern lieb und heilig ist: schummrige Tempel, abenteuerliche Wallfahrten, Verbundenheit mit der Natur durch heilige Pflanzen und Tiere..
Die langfristig wichtigste Entwicklung ist meiner Meinung nach jedoch die Individualisierung des Glaubens. Die traditionellen Religionen Indiens denken in Familienstrukturen. Die indischen Sprachen kennen für jede einzelne Verwandtschaftsbeziehung ein spezielles Wort. Der einzelne Mensch ist in seiner Familie geborgen und verzichtet dafür auf viel Freiheit. Das bezieht sich nicht nur auf die Wahl des Ehepartners, sondern auch auf die Religion. Die "westlichen" Formen des Hinduismus sprechen hingegen nur den Einzelnen an.

Donnerstag, 2. September 2010

Geburtstag von Lord Krishna


Gerade noch rechtzeitig bin ich zu den "hinduistischen Weihnachten" zurück nach Mumbai gekommen. Heuer ist das der 2. September (alle indischen Religionen orientieren sich an den "Monden") . Parvish und sein Feund Goldy, beide Hindu, führen mich an das grösste Gokulashtami-Festival von Mumbai. Es findet im Rama-Krishna-Hare-Krishna Tempelkomplex der ISKCOM statt. Stundenlang wird dort musiziert, getanzt und Kirshna angerufen. Die Hare-Kirshna-Songs tönen seit den Beatles sehr poppig.
Am Tag findet das Dahi Mandi statt. Weil das Kind Krishna (zu) viel Milch und Sahne naschte, hängte seine Mutter den Topf an einer Leine in die Höhe. Kirshna organisierte seine Freunde. Mit einer Menschenpyramide überwanden die Kinder die Höhe und konnten sich die Sahne holen.
An manchen Plätzen wird ein Topf aufgehängt, in dem sich ein stattlicher Geldbetrag befindet. Teams ("govinda") von jungen Männern und Frauen fahren von Ort zu Ort und versuchen, den Topf aufzuschlagen. Haben sie erfolg, dann ergiesst sich zuerst Buttermilch über das ganze Team (die Teamarbeit wird gesegnet), das Geld ist ihnen. Einzelne Töpfe hängen recht hoch (3. bis 4. Stockwerk) und einzelne Teams trainieren viele Wochen lang. Das Ganze wird mit lauter Musik aus Mega-Lautsprecher-Anlagen untermauert. Die Teams fahren auf originellen Fahrzeugen (dekorierte Lastwagen, Motorräder oder verrostete Velos) von Ort zu Ort.
Der eigentlich religiöse Brauch wird von politischer Seite unterstützt - oder für eigene Propaganda missbraucht - wie man's nimmt. Ich war an zwei prominenten Plätzen, die beide von der Congress-party dominiert waren. Ein muslimischer (!) Geschäftsmann hat dieses Jahr einen Topf mit Rs 555'555 (ca. 12'000 SFr.) aufgehängt.
Geht es nach dem Willen einiger Kommentatoren, wird "Govinda" zur olympischen Sportart erklärt. Dann tritt die Religion noch weiter zurück.