
Jede gesellschaftliche Bewegung hat eine Gegenbewegung. In den indischen Zeitungen wird täglich von "honour killings" berichtet. Da wird eine junge Frau oder ein junger Mann - oder gleich beide - tot aufgefunden, es wird ein Tötungsdelikt vermutet, verdächtigt werden eigene Familienangehörige. Der brutalen Tat vorausgegangen ist jeweils eine Liebesbeziehung, die nicht ins Konzept der Familie passt, d.h. der oder die PartnerIn des eigenen Kindes stammt nicht aus der genehmen Kaste. Haben bis vor kurzem die Zeitungen von Mumbai und Delhi ziemlich herablassend über die barbarischen Bräuche von "villagers" berichtet, so häufen sich in letzter Zeit aber Berichte über solche Fälle innerhalb eher armer Kreise in den Grossstädten.
Meiner Ansicht nach verbirgt sich hinter diesen furchbaren Verbrechen ein Generationen- und ein Modernitätskonflikt. Die Jungen leben in einer anderen Welt als manche ihrer Eltern. Das "cellphone", die West-Movies, das Motorrad, das heimliche Rauchen und Alkoholtrinken kann man ja noch durchlassen. Sobald aber die Zukunft der Familie betroffen ist (durch eine Hochzeit oder schon nur durch sexuelle Kontakte), geht es um Sein und Nichtsein.
Ich bin nicht sehr glücklich mit dem Ausdruck "honour killing", der verwendet wird. Zum einen haben diese Verbrechen nichts mit Ehre zu tun. Zum anderen geht es um Mord ("murder") und nicht um Tötung. Auch der deutsche Begriff "Ehren-Mord" ist nicht korrekt. Besser wäre "Traditionsmord".
Erst jetzt wird im indischen Parlament das Gesetz in der Weise verschärft, dass der Tatbestand als Mord geahndet werden kann, was sich ganz wesentlich auf das Strafmass der Täter- und Mittäterschaft aufwirkt. Ob die täglichen Berichte rückständige Familien von solchen Taten abhalten, oder ihnen umgekehrt die Option "honour killing" nahelegen, weiss ich nicht.
Aus religiöser Sicht kommen diese "honour killings" nur bei Kasten-Hindus und selten bei Muslimen vor. Die anderen Religionen wie Sikhs, Jains, Buddhisten und Christen sind im Allgemeinen zu modern und tolerant eingestellt, um einen Mord in Erwägung zu ziehen.
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