
Es ist faszinierend, in einem Kunstwerk herum zu gehen. Das ist in Chandigarh der Fall. Die Stadt wurde vor 55 Jahren vom Schweizer Künstler Le Corbussier entworfen und nach seinen Vorstellungen gebaut. Auf der Schweizer 10er-Note findest du nicht nur ein Bild von Le Corbussier, sondern auch von einem seiner Gebäude. Das steht in der nordindischen Stadt Ghandigarh.
Durch die Teilung von Indien und Pakistan wurde auch der Panjab geteilt. Der südliche Teil verlor dadurch seine Hauptstadt. Da sich keine der bestehenden Städte eignete, beschloss der Premierminister, eine neue Stadt zu bauen. Le Corbussier erhielt schliesslich den Auftrag, stellte aber Bedingungen, die bis heute erfüllt werden. So steht Ghandigarh z.B. unter direkter Verwaltung von Delhi und ist von den beiden Staaten Panjab und Harjan, von denen beiden sie heute Hauptstadt ist, unabhängig. Le Corbussier wollte, dass jeder Mensch einen Platz an der Sonne, an der frischen Luft und im Grünen erhält. Infrastruktur und Verkehrswege sollten von Anfang an optimal auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt werden. Seine Lösung sind die Sektoren. Die Stadt besteht aus rund 80 Sektoren, die alle 800m breit und 1200m lang sind. In der Mitte jeden Sektors finden sich Läden, ein Kino usw., alles für den täglichen Gebrauch. Darum herum stehen Schulhäuser, Sportplätze, Kinderspielplätze in einer Grünzone. Und dann kommen die Wohnhäuser, die höchstens 3 Stockwerke hoch sein dürfen und über einen eigenen Garten verfügen. So hat jede Familie Zugang zu Sonne, frischer Luft und Grünland. Im Idealfall ist der Sektor mit einer Mauer umgeben, die Erschliessung erfolgt über vier Eingangstore jeweils in der Mitte. Es gibt 7 Strassentypen, wobei seit ein paar Jahren noch Fahrradwege als 8. Typ dazu kommen. Zwischen den Sektoren befinden sich richtungsgetrennte Schnellstrassen, die grosszügig in einer Allee geführt werden. Alle 800, resp. 1200 Meter stösst man auf ein Rondell. Die nicht-alltäglichen Bedürfnisse wie Verwaltung, Universität, Spitäler, Industrie, künstlicher See u.ä. sind am Rand in speziellen Sektoren angesiedelt. Le Corbussier hat in einem Codex noch eine Reihe von weiteren Massnahmen zur Sicherung der Lebensqualität festgehalten. So gibt es z.B. keine Statuen, weil die Zeit des Personenkults vorbei sei. Viele wichtige Gebäude von der Verwaltung bis hin zum Normhaus für einfache Leute sind von Le Corbussier selber gezeichnet worden.
Das Ganze ist tatsächlich ein Kunstwerk. Die Lebensqualität ist wirklich beeindruckend, der Verkehr fliesst, die Leute haben Raum und Freiräume, die Entwicklung ist in keiner Weise gehemmt. Ich bin vier Tage lang durch die Stadt gepilgert. Aber irgendwie fehlt mir doch etwas. Da ist alles rechtwinklig, da ist nichts gewachsen, da gibt es keine biologische Formen. Aufgefallen ist mir das erst im Garten der Kunstakademie. Ich habe dort ausschliesslich menschliche, runde und verspielte Formen gefunden. Mit einem der Künstler habe ich länger gesprochen. Er liebt Chandigarh, in keiner Stadt seien die Leute so kunstbewusst wie hier.